Zum Inhalt springen

Prime Time Provokateure & Cancle Culture

CABINET DEZEMBER 2020

Immer wieder gab es kritische Künstler, die polarisierten und zwischen Zensur und Heiligsprechung am Steil tanzten. Die Zensur konnte dabei den persönlichen Bankrott bedeuten, möglicherweise aber auch gerade deshalb die besondere Brisanz der Kunst hervorheben. Für systemkritische Musiker glich das Verbot in manchen Szenen sogar als eine Art Denominazione di origine controllata.

Der Begriff des Cancel Culture rückt das Thema Zensur, dass bis dato eher eine milieubedingte Nischenangelegnheit war, in ein breites öffentliche Interesse. Zielscheibe sind plötzlich nicht mehr vom Verfassungsschutz verfolgte Systemkritiker, sondern auf den ersten Blick völlig unscheinbare Akteure aus dem Herzen der Gesellschaft. Kinderbuchautorin J. K. Rowling gilt, wenn es nach Dieter Nuhr geht, als Opfer einer neuen Form von Meinungsdiktatur. Einem Mißstand, von dem sich Dieter Nuhr auch selbst bedroht und denunziert sieht. Als mittlerweile über Gebühr diskutiertes Beispiel gilt auch die Kabarettistin Lisa Eckhart, die nach scheinbarer Gewaltandrohung von einem Literaturfestival in Hamburg ausgeladen wurde und seitdem als Mittelpunkt einer Hetzjagd gilt. Viele zeigen sich daraufhin solidarisch. Wünschenswert, da nun Fokus auf ein sehr essenzielles Thema gelegt wird, dass bis dato in der Mitte der Gesellschaft wenig Interesse wecken konnte.

Diese breite Solidarität liegt in erster Linie aber auch an der breiten Beliebtheit der genannten Akteure. Lisa Eckhart und Dieter Nuhr spielen in der Hauptsendezeit des ORF, ARD, sowie dem WDR. Beide wirken eher bieder, gesellschaftlich fest verortet und sprechen Meinungen aus, die ein sehr breiter Teil der Gesellschaft teilt und das auch mit dem Kauf von Konzertkarten honoriert. Doch beide gelten als mißverstanden und zensiert? Wie geht sich das aus? Der Trick ist eine gekonnt gewählte Auswahl von vermeintlichen Fauxpas mit Tabuthemen wie Antisemitismus im genannten biederen Kontext. Ein kurzes Beispiel als Vergleich: Die gesamte Schulklasse sitzt artig in den Heften vertieft und folgt den fest vorgeschriebenen Rechenregeln der Mathematiklehrerin. Max schreit: Penis! Jeder lacht und alle sind schockiert, weil jetzt alle mehr Hausaufgaben machen müssen. Das wird man ja in einer freien Gesellschaft noch sagen dürfen. Tatsache ist: Penis darf man sagen und Lisa Eckhart sowie Dieter Nuhr sind weit davon entfernt, mit der gesellschaftlichen Breite geschweige denn dem Staat in Konflikt zu geraten. Ganz im Gegenteil: Könnte die Bundesrepublik sich höchstpersönlich ihre Revolutionäre aussuchen, sie würden Dieter, Lisa und Max in der Primetime senden.

Ziel der Diskussion ist nicht, Themen wie Anstand und Geschmack neu zu diskutieren. Auch sollte der Fokus nicht auf Political correctness und jenen Begriffen liegen, die man nicht mehr sagen darf. Vielmehr sollten wir uns fragen, ob Provokation und Widerstand gerade verniedlicht, sowie Zensur und Meinungsfreiheit verwässert werden.

MENTOR*INNEN

Christoph Müller

FORMAT

Erfahre mehr über unser Cabinet.

TERMIN

Dienstag, 09.12.2020, 18:30-21:00

ORT

Online

CREDIT

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay